Roter Berg

„Lorkhan“, hörte er die Stimme in der Gildenhalle sagen. Der Altmer sah auf von seinem Buch auf und blickte in Richtung des Sprechers. Es war sein Gilden- und Kampfgefährte, dem er vor einigen Tagen vor dem Gemälde Ada-Mantias die Geschichte vom Gefüge der Türme erzählt hatte.

„Was ist mit Lorkhan?“ erwiderte er.

„Lorkhans Betrug, um genau zu sein. Du hast mir neulich fast beiläufig von Lorkhans Betrug erzählt, und dass er im Direnni-Turm geahndet wurde. Ich habe lange darüber nachgedacht und frage mich nach wie vor, was du damit gemeint hast.“

Menelaos legte behutsam das alte Buch beiseite, in dem er bis jetzt gelesen hatte. Er winkte seinen Gildengefährten zu sich an den Tisch und wies mit einer einladenden Geste auf einen der schweren Nachtholzstühle.

„Es ist sicher schwierig, die Geschichte von Lorkhans Betrug in kurze Worte zu fassen, denn sie ist zugleich Ausgangspunkt für viele Geschichten von der Schöpfung Nirns; und wie man sich vorstellen kann, gibt es dazu auch eine Unmenge an Deutungen und sich teilweise widersprechenden Ansichten.“ Er lächelte dabei sein feines ironisches Lächeln, so als wolle er hinzufügen: „Und sie wissen alle nicht, worum es geht.“

Sein Gegenüber schien die Worte sorgsam abzuwägen, betrachtete kurz den dicken Wälzer, in dem der Altmer gerade noch gelesen hatte und raunte dann nachdenklich: „Da du es selbst als einen Betrug an was auch immer anzusehen scheinst, interessiert mich deine Sicht der Dinge. Vielleicht magst du von den sonstigen Gepflogenheiten des Elfenvolkes einmal absehen und die Erläuterungen etwas … komprimieren?“

Der Altmer lachte leise auf und drehte mit der rechten Hand amüsiert den vor ihm stehenden Kelch um einige Grad nach rechts. Er schien wiederum einige Momente lang seine Worte abzuwägen, bevor er begann:

„Lorkhan war der Erste Große Geist, nachdem Anu und Padomay sich verbunden hatten, bevor überhaupt irgendetwas erschaffen war. Manche Gelehrten nennen ihn deswegen auch den Sohn Padomays, weil er schließlich Veränderung herbeiführte, aber der Vergleich ist natürlich nicht vollends zutreffend. Manche nennen ihn auch einfach den Ersten Schöpfer. Wie dem auch sei, Lorkhan überzeugte viele der anderen Großen Geister, mit ihm zusammen eine Schöpfung zu beginnen: Den Mundus, mit all den Sphären und Welten, die wir heute denken zu kennen, Nirn mit eingeschlossen. Er fand tatsächlich eine große Schar der ‚et’Ada‘, also jener Großen Wesenheiten, die Willens waren, ihm bei seinem Unterfangen zu helfen. Und so machten sich alle ans Werk, und sie nannten den Geist Magnus ihren Architekten. Was Lorkhan aber ihnen allen verschwieg war, dass alle, die daran teilhaben würden, unweigerlich einen Großteil ihres unsterblichen Geistes dafür opfern würden. Um seine Schöpfung und somit seinen Willen durchzusetzen, raubte er vielen seiner Gefährten ihren Göttlichen Funken, und sie mussten in erniedrigter Form fliehen oder im Mundus verbleiben. Magnus war der Erste, der sich zurück nach Aetherius begab, und nicht wenige der übrigen et’Ada folgten ihm. Jene aber, die dem Mundus nicht den Rücken kehrten, wurden der Schöpfung so verbunden, dass sie ganz in ihr aufgingen; und die mächtigsten acht dieser Geister wurden Mundus‘ Beschützer, die heutigen Acht Götter Nirns. Die Geschichte ist fester Bestandteil so ziemlich aller Schöpfungsgeschichten Tamriels, und es gibt Gelehrte, die tatsächlich auch annehmen, dass Nirn – und somit auch Tamriel – Teile von Lorkhans körperlicher Gestalt sind, die einst aus diesem Schöpfungsplan hervorging. Und dann gibt es noch jene, die denken, die beiden Monde seien die Überreste seines göttlichen Körpers.“

„Aber warum wird von Lorkhans Betrug gesprochen, wenn doch letzten Endes die Welt aus diesem Akt hervorgegangen ist?“

Der Altmer fuhr nachdenklich mit zwei Fingern die filigranen Muster auf dem Buchdeckel nach und sprach dann behutsam weiter: „Ein Teil jener Geister, die sich entschlossen, auf Nirn zu bleiben, wurde nach unzähligen Zeitaltern zu den Vorfahren der Ayleid und somit auch zu Vorfahren meines Volkes. In den Texten der Gelehrten werden sie die Ehlnofey genannt, die ‚Knochen der Erde‘. Zu ihnen sollen einst auch die Hist gehört haben, und vermutlich sind sie auch die Ahnen aller Naturgeister. Aber gerade jene, die die Ahnen der späteren Elfenvölker sein sollten, waren nicht damit zufrieden. Lorkhan hatte sie einst benutzt für seinen Plan und es in Kauf genommen, dass diese wiederum ihre Unsterblichkeit verlieren würden. Jene Vorfahren nahmen ihr Schicksal an, aber sie verziehen ihm nie. Für sie waren sie die erniedrigten Geister eines unsterblichen Geschlechts geworden, und für sie war Lorkhan fortan der Betrüger, der sie um ihre Unsterblichkeit und um ihren Göttlichen Funken gebracht hatte.

Die acht Götter Nirns – also jene Mächtigsten unter denen, die sich entschieden, dem Mundus weiterhin beizuwohnen – werden von uns Elfen die Aedra genannt. Übersetzt heißt es ‚unsere Ahnen‘. Ironischerweise sehen die Menschen es aber ganz anders. Für sie wurde Lorkhan – oder besser Sheor oder Shor, wie sie ihn nennen – zum Inbegriff des Sterblichen, zu einem wahren Schöpfer, der auch Ahnherr des Menschenvolks wurde. Der Ausruf ‚Bei Shors Knochen!‘ birgt mehr Wahrheit in sich, als sie vielleicht ahnen, denn das Menschenvolk wurde bereits sterblich geschaffen, und so sind sie die jüngsten Knochen der Erde, und sie kennen Shor – oder Lorkhan – nur als ihren gutmeinenden Schöpfer. Für die Elfen aber bleibt er ein Betrüger, der sie einst um die Unsterblichkeit gebracht hat.“

„Und dafür wurde Shor beziehungsweise Lorkhan bestraft?“

„Ja, so soll es gewesen sein. Im Ada-Mantia kamen die Aedra, zusammen und setzten Lorkhan fest. Am Ende trennten Trinimac und Auriel, auch bekannt als Akatosh, Lorkhans Herz von seinem Leib und schossen das Herz weit nach Osten. So, wie ich es bereits schilderte, wo das Herz wieder in die Erde – in Lorkhans Körper sozusagen – stieß, bebte die Erde und der Rote Berg wurde geboren.



Der Zuhörer strich sich nachdenklich über sein Kinn und ließ die Worte einen Moment lang wirken. Schließlich legte er den Kopf leicht schräg und fragte: „Du hast gesagt, um Lorkhans Herz sei Krieg geführt worden. Was hast du damit gemeint? Wann war das?“

Menelaos nahm erst einen Schluck ‚Alte Epiphanie‘ aus seinem hohen Kelch, bevor er fortfuhr: „Lorkhans Herz ruhte zwar tief in der Erde, unter dem Roten Berg. Aber letzten Endes wurde es gefunden: Die Dwemer stießen bei ihren Arbeiten tief unter der Erde auf die heiße Kammer, in der das Herz ruhte. Es soll der Große Tonmeister Kagrenac gewesen sein, der das Herz als das von Lorkhan identifizierte, und er schmiedete den aberwitzigen Plan, es für seine Zwecke zu benutzen.“

„Kagrenac? Kagrenac… Irgendwoher kenne ich diesen Namen.“

„Ja, Kagrenac soll der größte Architekt und Konstrukteur der Dwemer gewesen sein. Ich weiß nicht warum, aber die Kriegergilde schmiedet bisweilen eine Rüstung, der sie den Namen ‚Kagrenacs Hoffnung‘ gibt, was wiederum sehr zynisch ist. Denn hätte sich Kagrenacs Hoffnung erfüllt, hätte sich die Geschichte Nirns, Tamriels und auch die des Volkes der Dwemer radikal anders entwickelt. Kagrenac wollte sich nämlich den Göttlichen Funken des Herzens nutzbar machen und für sein Volk einen eigenen Gott erschaffen; und mit ‚erschaffen‘ meine ich tatsächlich, er wollte einen Gott konstruieren und dann mit dem Funken des Herzens beseelen. Und so erschufen die Dwemer Anumidium, den Gott-Koloss, den riesigen Messingturm, der gehen und denken konnte … oder sollte.“

Der Altmer sah, dass sein Gegenüber die Augenbrauen in die Höhe zog, und seine aufgeregten, fragenden Augen bohrten sich geradezu in den Elfen hinein: „Hast du gerade Turm gesagt? Einen Messing … turm?“

„Ja, die Dwemer bauten einen solchen Turm. Ich sagte dir letztens, dass es im Gefüge der Türme einige gibt, bei denen man eher symbolisch oder metaphysisch von einem Turm sprechen könnte; und Anumidium erfüllte zunächst alles, was ihn in das Gefüge der Türme band. Er soll der Dritte Turm gewesen sein, und Lorkhans Herz wurde zu seinem Fokus; wobei die Meinungen da auseinander gehen. Aber wie so oft, laufen die Dinge anders, wenn Sterbliche mit den Kräften von Göttern herumspielen. Kagrenacs Pläne wurden bemerkt, und aus Angst und Neid kam es zum Krieg.“

Der Zuhörer lehnte sich ein wenig nach vorn und faltete beide Hände in seinem Schoß: „Kannst du mir ein wenig mehr davon erzählen?“

Menelaos wiederum schob nun das alte Buch gänzlich beiseite. Erst jetzt bemerkte sein Gildengefährte, dass der Buchrücken mit fein geschwungenen daedrischen Schriftzeichen versehen war.

„Sicher…“