Wie oben, so unten

Die Gestalt lief durch die sternenklare Nacht und der Wind strich ihr durchs feuerrote Haar. Die Wolkenberge waren gen Westen gezogen und in wenigen Stunden würde die Scheibe der Sonne ihr Gesicht im Osten erheben. Die Welt roch nach Aufbruch und in der Luft lag bereits die Würze von tausend Kräutern, die in einigen Mondläufen erblühen würden.

Hinter ihr verblasste bereits die Liebende, die ihr den Weg gewiesen hatte und das strenge Sternbild der Fürstin kündigte sich im Norden an. Die Zeit schwand dahin und aus dem Horizont schälte sich bereits die Silhouette eines gigantischen Baums. Sie kannte ihn gut, es war Wiga-Rundil, und er war alt, selbst nach den Bahnen der Welt.

‘Ich will künden von der Zeit vor dem Anfang’, kam ihr der Bannspruch von einst in den Sinn, als die Alten Pfade noch beschritten wurden. Lange hatte sie im Turm gewacht, das Land war nun anders. Mächte stritten sich darum; alte Mächte, nicht die arroganten Kleingeister mit ihren Reichen und Fürstentümern, die nach drei Herzschlägen der Welt bereits wieder vergessen waren. Es war kühl.

Im Turm hatte sie ihr Selbst wieder die Gestalt der weiblichen Aldmer von einst annehmen lassen. Sie bot immerhin die Größe, in die Mundussicht zu wechseln und die Welt so zu sehen, wie sie war: Ein dichtes Gespinst aus Geist, Urkraft und Ausdruck mit unzähligen Verästelungen der Zeit; wie ein Baum. Auch Wiga-Rundil hatte dies einst gekonnt und Mer und Menschen hatten sich zu ihm begeben, um von ihm zu lernen. In ihrer eigenen Sprache hatten sie es ‘Wyrd’ genannt, eine degenerierte Form der Kräfte der Welkyndsteine, die das Sternenlicht in sich aufnehmen konnten; und noch vieles mehr, wenn man nur wusste, wie. Tatsächlich war es dieser Tage bloß ein halb aus Unwissenheit, halb aus Ignoranz geborener Aberglaube, dass die Kurzlebigen imstande wären den Lauf der Welt zu deuten.

Sie kam dem Wyrdbaum näher und hielt auf einer Anhöhe inne. Vor dem dunklen Horizont waren nun deutlich die Umrisse des Alten sichtbar. Sein dicker Stamm war wie das Fundament der Erde und seine Äste ragten wie Arme in den Himmel, die etwas greifen wollten. Farne und Lianen hingen von ihm herab wie starke Seile, die sich am Boden um große, blumenbewachsene Findlinge schlangen. Aber die Szenerie täuschte, etwas war hier ins Wanken geraten.

Sie ließ es zu, dass sich ihre Sicht zwischen die Welten schob, und da war es: Ein Schleier lag über allem, dort, wo das Gleichgewicht zwischen Aetherius und dem Mundus gestört schien. Feine Schleier hatten sich wie die Fangarme einer Qualle über Wiga-Rundil gelegt: Oblivion war gekommen. Das an sich ruhige spinnennetzartige Gewebe der Pfade und Kräfte erzitterte an mehreren Enden und kleine Geistwesen stiegen an ihm herab.

Die Frau neigte den Kopf leicht zur Seite, während sie die ganze Aura des Landes in sich aufnahm. Die Finger ihrer linken Hand streckten und bewegten sich feingliedrig. ‘Ich bitte dich also, wache über das Herzland’, hallte es in ihrem Geist nach. Es war die eindringliche Verabschiedung von Menel-Ganid, die ihr in Erinnerung geblieben war.


Sie beschloss, sich weiter zu nähern. Obwohl die Robe schwer zu sein schien, bewegte sich die Frau mit fließenden, präzisen Bewegungen. Ihr Weg führte sie nun den Hügel hinab in die große Ebene und darüber hinweg bis zu den Hängen der Berge im Norden, die die Heimat des Wyrdbaums geworden war, seit er sich entschlossen hatte, dort zu bleiben. Ein Bach floss hier weniger schnell, als er es hätte müssen, und vor dem Baum hatte sich ein Tümpel aus Brackwasser und üblen Absichten gebildet. Noch war er nicht zu einem Portal geworden, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis Übleres hier eintreten konnte als die niedrigsten der Diener und Handlanger.

Sie nahm eine Bewegung links am Wäldchen wahr, dort wo einer der alten Steinkreise mit den infantilen eingekratzten Runen stand. Ein Bär kam auf sie zu. Etwas war anders an ihm, sein Körper bewegte sich nicht synchron zu seinem Tiergeist. In ihrer eigenen Sicht bemerkte die Frau den Einfluss. Ein niederer Diener der D’aedra, ein Clannbann, war in den Bären gefahren und hatte seinen Tiergeist verdorben. Der Geist lachte ihr höhnend entgegen, als er gewahr wurde, dass sie ihn sehen konnte.

Er musste wissen, warum sie gekommen war. Also schickte er seine Diener, die bereits imstande waren, im hier und jetzt Wesen in Besitz zu nehmen. Er musste auch wissen, dass er sie nicht besiegen, sondern allenfalls verlangsamen konnte. Aber er würde sicher genau das versuchen.

Der Bär preschte nun auf sie zu. Er würde sich gleich aufrichten und versuchen, die Frau unter sich zu begraben. Aber sie war bereit. Mit einer knappen, schnellen Bewegung wich sie dem Tier aus. Sie hob ihren linken Arm und ein schwach rot wabernder Strahl traf den Bären unterhalb des Halses. Wutentbrannt heulte er auf. In ihrer Rechten erschien ihr Stab mit dem blutroten Seelenstein im Kopfstück. Er leuchtete auf und sog die Seelenenergie des Clannbann in sich auf. Die übrig gebliebene Hülle des Tiers sackte noch im Lauf zusammen und kam einige Schritte hinter ihr zur Ruhe.

Sie drehte sich um, senkte leicht den Kopf und drehte die Handfläche ihrer Linken nach innen. Die Augen des toten Bären glommen noch einmal kurz, dann war es vorbei. Der korrumpierte Tiergeist schwebte nun über dem Bären. Die dunkle Arua war beinahe greifbar. Statt sie aber zu greifen, entließ die Frau ihren Stab in der Rechten und beschrieb dann einige Gesten. Mit einigen Worten in Ehlnofex schloss sie den Bannspruch ab. Der Tiergeist war nun befreit und er fuhr wieder hinauf in die Aura des Wyrdbaums, um sich dort mit den anderen zu vereinigen. Sie schaute ihm nach, als er um die starken Äste fegte. Die Hülle des Bären blieb zurück, aber Fleisch war irrelevant. Sie blickte sich wieder um zu dem Tümpel, der mittlerweile begonnen hatte, zu blubbern und zu gurgeln. Da sah sie es.

Um den Tümpel herum hatte jemand die leblosen Hüllen der Menschen angeordnet, ähnlich einer aufsteigenden Windrose mit dem Wasser als Fokus. Die Frau blickte nach oben. Die Seelen der Wyrdpriester mussten beim Scheiden aus ihren Körpern das Sternbild der Schlange passiert haben. Er hatte dies für seine Zwecke ausgenutzt und eine celestische Säule erschaffen. Vermutlich waren in den zurückgebliebenen Körpern alle Knochen gebrochen. Aber das war unwichtig, die Säule musste zerstört werden.

Ohne zu zögern ließ die Frau ihren Körper zurück und fuhr in den Tümpel. Dort musste ein Anker sein, der die Säule im hier und jetzt hielt. Ihr Körper würde eine Zeit lang innehalten, aber sie benötigte allen Raum für ihren Geist und kein Gefängnis aus Fleisch oder wabbelnder, grauer Masse.

Mit einem Mal veränderte sich wieder ihre Sicht. Sie schwebte nun unter der Erde im Nichts und sah das Rad von der Seite. Nach irdischer Logik hätte sich der Tümpel nun von oben hinab ergießen müssen, aber hier war der Fluss ein anderer. Der Riss erhielt einen Zustrom, die Richtung war umgekehrt. Nichts ungewöhnliches für ein entstehendes Portal in der Sphäre aus Geist. Die Frau erweiterte ihre Sicht um die Auren der Körper gewordenen Göttlichen, woraufhin sie die Bahnen der Ersten Geister sah. Kynareth stand über Akatosh, aber in seinem Schatten. Zwischen ihnen war einer der Dämmersterne aufgerissen. Nur einer der größeren Veränderer hätte so etwas bewirken können. Aus diesem Dämmerstern musste sich die Säule speisen. Es war ein Riss im Gewand, das nun Energien aus Aetherius freigab. Für Nirn musste es einen Anker aus Geist und Absicht geben, damit das malade Netz über Wiga-Rundil gesponnen werden konnte.


 Und sie sah ihn auch bereits: Es war einer der Knochen gewordenen Geister, der gefesselt vor dem Stern im Nichts taumelte. Er musste aus Wiga-Rundil gerissen und für üble Zwecke missbraucht worden sein, denn allein seine Essenz hielt die Existenz der Säule im Gleichgewicht. Nur sein Scheiden würde das Einstürzen der Säule noch möglich machen. Es schmerzte die Frau, aber die Erkenntnis war klar.

Sie schwebte auf ihn zu, und der Geist wurde ihrer gewahr. Er sah ihr quälend entgegen. Obwohl er nicht ganz seiner Wurzeln beraubt worden war, hatte er Teile der Essenz angekettet, so dass das Wesen mitten in dem Strudel hing. “Verzeih”, hörte sie in ihrem Inneren die Stimme der Wesenheit.

Mit ihrer Rechten beschwor sie wiederum das Abbild des Stabes. Es erschien, und mit ihm wehte sie einige Gesten und Kreise durch die Strömungen hier. Um den Geist bildete sich ein Zyklon aus Willen, der ihn schließlich einhüllte. Hätte es hier Klänge gegeben, hätten beide wohl eine Symphonie aus Sternenlicht gehört, aber so war es lediglich die Aura Ank-Batals, die den Geist schließlich freigab. Aber in seiner Freigabe lag eben auch sein Scheiden, so hatte es der Betrug Lorkhans einst gefordert. Sie blickte zu der Wesenheit, die nun der Ketten entledigt aus dem Strudel wehte. Die Aura war schwächer geworden, deutlich schwächer sogar, und der verbindende Knochen ins Mark Nirns war zerschlagen. Er würde nicht zurückkehren können.

Sie sah ihn nochmals an. Gütig sagte sie: “Geh nun durch den Stern zu den Magna-Ge. Deine Wacht ist beendet und ein anderer wird deinen Platz einnehmen. Aetherius wartet.”

Der Geist machte das, was man eine Geste der Entschuldigung hätte nennen können. In ihrem Geist hörte sie ihn fragen: “Wer wird kommen und meinen Platz einnehmen?”

Sie zögerte einige Augeblicke, während sich die Säule aus Geist bereits anschickte, im angebrochenen Dämmerstern zu verschwinden. Hätte sie hier lächeln können, ihr Lächeln wäre verkniffen und unehrlich gewesen. So sagte sie nur “Jemand anderes.” Aber es war auch für sie an der Zeit, nach Nirn zurückzukehren. Ihr Körper würde nicht ewig warten, sondern bald welken.

Der Geist, der so lange an Wiga-Rundils Seite gewacht hatte, nickte schwach. “Ich verstehe. So gehe ich zu den anderen nach Aetherius.” Und damit fuhr er in die Säule, die sich in den Dämmerstern ergoss und war bald verschwunden.

Ihr aber kam der zweite Teil des alten Bannspruch in den Sinn: ‘Die Leere des Raums war meine sorglose Mutter, mein Vater Salz der See.’

Der Geist der Frau hielt noch inne und blickte zurück zum Rad. Aus seiner Seite war mittlerweile das Abbild eines Turms geworden. Um ihn herum kreisten die Bahnen der Körper gewordenen Göttlichen; und auch die beiden zerschlagenen Hälften Lorkhans waren dort. “Das ist das ‘I’, das ihr nicht verstehen könnt”, dachte die Frau noch bei sich, bevor sie sich anschickte, durch den Strudel wieder den Boden des Betrugs zu betreten.

...

Jenseits des Unter Der Welt regte sich die Frau wieder, die an jenem Tümpel stand. Sie spreizte leicht angestrengt die Finger und sah sich um. Die ausgeworfenen Netze waren fort, die gierigen Tentakel aus Oblivion verschwunden. Ihre Robe raschelte leise, als sie den kleinen Teich verließ. Das Gurgeln des Baches war weniger gedämpft und die Brise des Morgens trug wieder den Duft der tausend Kräuter durchs Tal.

Zuletzt schritt sie vorbei an den reglosen Leibern der Wyrdpriester in das Heiligtum des Wyrdbaums. Es war das Herz Wiga-Rundils, das bereits hier gewesen war, als kein Jahresring das Holz zierte. Sie trat an das Herz, das noch grün schlug und blickte an ihm auf. Dort sah sie in der Borke das Gesicht des Erde gewordenen Geistes.


Es lächelte sanft.