Grünsaft

Das Treffen fand im Schatten des riesigen Baums von Eldenwurz statt. Der Winter schien sich nun verabschiedet zu haben, aber selbst das war in Eldenwurz egal, denn hier schien immer irgendwie Frühling zu sein. Die Gruppe saß auf der erhöhten Plattform eines Knospenhauses, und auf dem Tisch stand eine Platte mit duftenden Speisen. Alles tierisch natürlich, denn der Grüne Pakt verbot den Waldelfen, Pflanzen zu essen oder gar aus ihnen Bekleidung oder Werkzeug herzustellen. Entsprechend anstrengend hatten es einige empfunden, sich auf die immer deftige Küche der Bosmer umzustellen, einschließlich des berüchtigten Ziegenschnapses. Doch hier saßen sie nun, einige der Mitglieder der Gilde, und wiederum lauschten sie den Ausführungen des Zauberers Menelaos zum Gefüge der Türme.

“Willkommen in Eldenwurz, der Heimat von Grünsaft, dem Schreiter.” Er machte eine weit ausholende Geste in Richtung des titanischen Baums, der in der Nähe aufragte und in seiner Größe beinahe den ganzen westlichen Horizont einnahm. Es war unmöglich, an ihm vorbei zu schauen, und überall in seiner riesigen Rinde waren kleine Erker und erleuchtete Fenster auszumachen.

Einige seiner Gildengefährten waren in der Tat seiner Einladung gefolgt. Das neue Anwesen der Botschaft des Altmeri-Bundes war just eingeweiht worden, und einige hatten auch unlängst an einer längeren Kampagne der “Unerschrockenen” teilgenommen, um Tamriel zu einem sichereren Ort zu machen. Unweigerlich hatten sich aber Fragen ergeben: Fragen, die über die Geschehnisse in der Welt hinaus gingen und unweigerlich jenen ominösen Schutzmantel berührten, der von acht noch ominöseren Türmen über Nirn aufgespannt war; oder es zumindest hätte sollen: Die Rede war wieder einmal vom Gefüge der Türme, und einmal mehr schien der Altmer bereit zu sein, sein Wissen zu teilen.

“Die Geschichte von Grünsaft ist insofern interessant, als dass man gut darlegen kann, wie unterschiedlich sich doch die Flüsse der Magie entwickeln können, selbst unter zwei Elfenvölkern.” Damit legte er eine dicke lederne Schriftrolle auf den Tisch vor sich und tippte mit dem Zeigefinger mehrfach drauf. “Denn die Magie, die der Welt innewohnt, kann auf ganz unterschiedliche Art genutzt werden. Die Kräfte, die aus Aetherius zu uns dringen, scheinen immer die selben zu sein, aber die Völker haben über die Epochen hinweg ganz unterschiedliche Zugänge zu diesen Kräften gefunden.”

“Das ist wichtig, um die Geschichte des Grünen Turms zu verstehen.” Er sah sich kurz um. “Leider”, fügte der Altmer hinzu, “hat dieser Umstand auch dazu geführt, dass die Geschichte von Grünsaft eine tragische ist, denn sie gründet auf Missverständnissen und der Uneinsicht, dass abseits der eigenen Ansichten auch andere zulässig und valide sein können.” Er blickte in die Runde. “Um es gleich vorweg zu nehmen: Grünsaft wurde vor langer Zeit seiner Rolle als Turm beraubt. Um bei unserem bisherigen Beispiel zu bleiben: Grünsaft ist aus dem Spiel, Nirn ist ein Stück weit schwächer. Aber wie gesagt, dies geschah vor verhältnismäßig langer Zeit.” Er zögerte: “Zumindest glauben wir das.” Er nickte wiederum in Richtung des Baums. Einige seiner Gefährten sahen sich daraufhin um und ließen ihre Blicke über den grünen Horizont schweifen.



“Grünsaft wurde auch der Schreitende Baum genannt. Es heißt, dass in alten Tagen alle Graht-Eichen durch Valenwald streiften und in langen Zyklen immer wieder dieselben Orte aufsuchten. Die größten unter ihnen waren Falinesti, Gil-Var-Delle und Grünsaft. Die Waldelfen hatten das erkannt und gründeten so ihre Gemeinschaften auf diesen schreitenden Bäumen oder auch entlang der Wege, die sie beschritten. Ebenso gründeten sie ihre Geschichten und Legenden darauf, und hier liegt der Kern ihrer Magie: Für die Bosmer gibt es als einziges Absolut nur ‘das Grün’ und darauf basiert ja auch ihr Grüner Pakt. Hier ist etwas Wesentliches: Die Waldelfen unterwarfen sich der Natur, während andere sich die Natur unterwerfen wollten. Die wandelnden Bäume aber waren Abbilder des Grüns, immer und an jedem Ort, weil sie ja wandeln konnten. Die Waldelfen begannen also, alle Geschichten zu jeder Zeit zusammenzutragen und daraus ein gemeinsames magisches Lied zu weben. Diese Lieder und Geschichten wurden weiter erzählt und jedes kommende Ereignis, das möglich gewesen wäre, kam in jeder Version jeder Strophe des Liedes vor.”

Er sah in die Gesichter seine Gefährten und dachte bei sich: ‘Ja, so habe ich auch geschaut, als ich das erste Mal davon gehört habe.’

“Um alle Möglichkeiten aller Orte in die Geschichte des Grüns einzubeziehen, pflanzten die Liedweber der Bosmer magische Samen in die Wurzeln dieser schreitenden Bäume. Sie sollten es vielleicht ermöglichen, ein stetiges Band zwischen den Schreitern zu haben. Eine Übersetzung des Begriffes für diese Samen wäre schwierig, aber am besten kann man es als ‘Eichel der Wahrscheinlichkeiten’ übersetzen. Mit ihr war gewährleistet, dass sich durch die Bäume alle Möglichkeiten und Ereignisse immer und überall im Grün abspielten, und dass aus allen Orten und allen Möglichkeiten die Zukunft als großes Lied werden würde.”

Einige der Gefährten sahen sich deutlich verwirrt an. Nur zwei Waldelfinnen aus der Gilde kicherten hörbar, vermutlich wegen der für sie unglaublich umständlichen Ausdrucksweise.

“Fragen?”, sagte eine von Ihnen in die Runde, woraufhin beide nun anfingen, laut und prustend loszulachen. “Bei Y’ffres Ohren, ihr müsstet mal eure Gesichter sehen!”

Menelaos atmete hörbar aus und schüttelte ein wenig den Kopf: “Das ist, soweit man das Weben und die Magie der Bosmer verstehen kann, die kurze Version und sie ist wichtig für Grünsaft, den schreitenden Turm und seine Rolle im Gefüge des Mundus. Grünsaft soll nämlich den Geschichten zufolge aus allen Geschichten gleichzeitig entstanden sein. Angeblich haben ihn die Bosmer sogar aus allen Geschichten großgezogen. Seine Wahrscheinlichkeitseichel wurde der Legende nach von den Liedwebern der Bosmer so kultiviert, dass er als Turm seine Rolle annehmen konnte.”

“Das Schicksal Grünsafts nahm aber eine entscheidende Wende, als im vierten Jahrhundert der Ersten Ära die alessianische Rebellion die Herrschaft der Alyeid im Herzland Cyrodiils jäh beendete. Die Elfen der Herzlande flohen vor den alessianischen Truppen, und viele wurden von ihren Verwandten, den Bosmer Valenwalds, aufgenommen. Unter jenen Flüchtlingen war auch der Erzmagister Anumaril, der einst auch König von Abagarlas war. Er war ein mächtiger und stolzer Herrscher gewesen, dessen Stadtstaat von seinen einstigen Sklaven und der Armee einer verfeindeten Stadt hinweggefegt wurde. Anumaril, und überhaupt alle Bewohner Abagarlas’, waren den Aufzeichnungen nach Anhänger von Molag Bal. Das hätte die Bosmer ängstigen sollen, aber vermutlich wussten sie es nicht besser, oder sie waren zu naiv, um dem Bedeutung beizumessen.”

Das Lachen der beiden Waldelfen verstummte.

“Wie dem auch sei: Anumaril wurde in Ehren in Eldenwurz willkommen geheißen. Anfangs fügten er und seinesgleichen sich in die Sitten und Gebräuche seiner Gastgeber ein, aber der Wille zur Herrschaft war bei ihm und ihnen nicht erloschen. Es scheint so, als hätten die Ayleid ihren Hang zur Dominanz selbst nach der Revolte nicht ablegen können. So kam dann auch Anumaril nicht als bloßer Gast zu den Bosmer, sondern er sah sich immer noch als König im Exil, dem die Welt Untertan sein sollte. Er soll eines Tages Zutritt zur Herzkammer des Grünsafts verlangt haben, angeblich, um das Wunder des grünen Turms zu bestaunen. Wie gesagt, die Bosmer hatten ihre ayleidischen Verwandten sehr freundschaftlich aufgenommen, denn das war ihr Naturell. Sie sind jovial, unbeschwert und haben sehr wenig von der Ernsthaftigkeit der anderen Elfenvölker.” Er zögerte und entschied sich dann zu einem feinen Lächeln: “Meines eingeschlossen. Sie dachten, in den Ayleid tatsächlich so etwas wie ein verwandtes Volk zu sehen. Aber Anumaril hatte längst einen kühnen Plan entwickelt.”

Er nahm den Kelch mit seinem Lieblingsgetränk und besah ihn sich im Licht des Tages. “Die Welt hat zuviele ‘kühne Pläne’ gesehen. Ich denke manchmal, sie wäre ohne diese ganzen ‘kühnen Pläne’ ein besserer Ort.”

Der Altmer machte eine kurze Pause, stellte den Kelch wieder auf den Tisch und schien sich zu sammeln: “An dieser Stelle müssen wir auch ein wenig über die Zauberkraft der Bosmer wissen, denn sie wirkt anders als jene Magicka, die wir glauben zu kennen. Während wir uns auf die Prinzipien von Ursache und Wirkung und die Linearität von aufeinander folgenden Effekten berufen, wird die Magie der Waldelfen durch das schier unendliche Verknüpfen von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten geprägt. Ich habe bereits versucht, das im Zusammenhang mit den Schreitenden Bäumen zu erklären. Dinge werden verknüpft und aus ihnen entsteht ein Multiversum an Möglichkeiten, in denen jeder Effekt möglich ist und deshalb gleichzeitig eintritt. Diese Gleichzeitigkeit fließt dann wieder an einem Punkt zusammen und ist zugleich Ausgangspunkt für das nächste Multiversum. Es ist schwierig zu beschreiben für nicht Eingeweihte, aber das Weben von Möglichkeiten zu Melodien und Geschichten macht die Magie unserer waldelfischen Verwandten aus.”

“Zurück zu Anumaril: Es steht nicht genau fest, was geschah. Überliefert ist, dass er in der Herzkammer des Grünsaft der Wahrscheinlichkeitseichel angesichtig wurde. Eben dort muss er wohl mit einem mächtigen magischen Stab einen Zauber gewebt haben; einen ayleidischen. In diesem Moment trafen die Kriterien der ayleidischen Magie, ‘hier, jetzt, müssen, erst, dann’ auf das Multiversum an Möglichkeiten und des ewigen ‘kann-oder-eben-nicht’ der Waldelfen. Die Bosmer sagen nun, die Eichel sei an Ort und Stelle erstarrt und ‘musste fortan’. Die Gelehrten, die denken, das deuten zu können, sagen nun, ein Teil des Grün sei in die Linearität gezwungen worden und mit der Eichel sei auch Grünsaft erstarrt. Und mit ihm alle anderen möglichen ‘Grünsäfte’, egal wann und wo.”




Menelaos deutet mit der Linken in Richtung der riesigen Graht-Eiche, die Eldenwurz war: “Er wird wohl niemals mehr schreiten. Jedenfalls steht er dort seit fast dreitausend Jahren. Was die anderen möglichen Grünsäfte angeht: Falinesti ist gänzlich verschwunden, keiner weiß, wohin; und Gil-Var-Delle wurde einst von Molag Bal zerstört. Nicht nur ein Grünsaft ist erstarrt, sondern alle, die möglich waren, und damit ist das Gefüge wiederum erschüttert.”

Der Altmer seufzte: “Grünsaft ist aus dem Spiel und muss sich in Ursache und Wirkung einfügen, weil ein ayleidischer König nicht Halt vor seinen Ambitionen machen konnte; oder wollte.”

Einer der Gefährten aus der Gilde räusperte sich und blickte Menelaos fragend an: “Was wurde aus diesem Anumaril? Beziehungsweise: Warum hat er überhaupt diesen Plan gefasst? Er hätte doch eigentlich damit zufrieden sein können, bei den Bosmer so herzlich aufgenommen worden zu sein.”

Ein anderer fügte hinzu: “Eben. Und ich meine, seinen Namen auch schon im Valenwald gehört zu haben. Es stehen hier ja auch etliche ayleidische Ruinen, insofern muss es ja schon ein reges Aufeinandertreffen der Kulturen gegeben haben.”

Menelaos wog den Kopf hin und her: “Es gibt manche, die sagen, Anumaril habe hier eine Transformation ingange setzen wollen. Das war sein kühner Plan: Er wollte aus Grünsaft einen neuen Weißgold machen, da die alessianischen Truppen eben diesen in der Kaiserstadt okkupiert hatten. Wir erinnern uns: Die Ayleid wussten zu dieser Zeit schon immens viel über die transformierenden Kräfte durch ihre Experimente mit dem Wagenrad, der ‘Creatia’ und auch den Tel’Var Steinen. Schließlich wollten sie in ihrem Herzland Cyrodiil die Schöpfung selbst in die Hand nehmen, indem sie eben jene Energien aus Oblivion abzapften. Aber Alessia kam ihnen mit ihren Truppen in die Quere und ihre Generäle Morihaus, der Stiermann, und Pelinal Weißplanke nahmen den Turm ein. Die geflohenen Ayleid weigerten sich aber, ihr Unterfangen aufzugeben, selbst nach der Flucht und im Exil. Es heißt, Anumaril habe unter den Wurzeln des Eldenbaums ein Planetarium oder eine Mundusmaschine errichtet, mit der er diese Transformation ingange setzen wollte. Die ayleidischen Flüchtlinge hatten viele ihrer Sternenkristalle mitgebracht und sie zunächst im Reliquiar der Sterne im nördlichen Grahtwald verwahrt; es scheint, nicht ganz ohne Hintersinn.”

“Das Reliquiar? War da nicht was mit einer Abgesandten der Magiergilde und einer eingesperrten Dremora?”

“In der Tat, dieses Reliquiar ist gemeint. Angeblich bewahrten die Ayleid darin ihre mitgebrachten Relikte aus Cyrodiil auf. Aber erst nachdem wir vor rund zwei Jahren das Herz Anumarils aus dem Reliquiar der Sterne bergen konnten, wurde mir klar, dass er diesen Kristall vielleicht als Fokusstein für seinen neuen Weißgoldenen Turm vorgesehen hatte. Die Tatsache, dass die Dremora Ukaezai das Herz benutzen konnte, um ihre Kräfte und ihren Körper wiederzuerlangen, deuten für mich darauf hin. Aber was aus Anumaril selbst wurde, darüber scheiden sich die Geister. Zumindest lesen wir nicht, dass er bestraft oder verbannt wurde.”

Der Altmer tippte mit dem Zeigefinger auf ein dickes, in grünes Leder eingebundenes Buch, das neben der ledernen Rolle auf dem Tisch lag. “Im Buch ‘Aurbische Rätsel, Teil IV’ ist davon die Rede, dass das Planetarium aus den Knochen Anumarils gebaut wurde, dass seine Zähne die Melodie oder den Ton angeben und dass sein Geist vielleicht inmitten der Maschine auf die Erfüllung seines Plans warten würde: Die Transformation Grünsafts in Weißgold. Vielleicht ist dies alles eine Metapher oder Parabel, aber vergegenwärtigen wir uns: Bei der Zeremonie Königin Ayrenns im Planetarium rief Prinz Naemon aus, er würde den Weißgoldenen Turm sehen, als er selbst in die Maschine trat.” Er zögerte. “Kurz bevor sie ihn in ein Monster verwandelte.”

Er sah wiederum in die Runde seiner Zuhörer: “Es fließt Creatia durch diese Mundusmaschine, das ist keine Frage, und vielleicht war es nötig, sie für kurze Zeit in Gang zu setzen.” Er machte eine Pause. “Aber manche Rätsel bleiben besser ungelöst, und ich denke, es ist weise, das Planetarium von Eldenwurz eine lange Zeit lang verschlossen zu halten. Anumarils Schatten liegt noch darauf, und vielleicht wird es noch lange dauern, bis er vorüber ist.

Und bis dahin sollte niemand versucht sein, kühne Pläne damit zu schmieden.”