Das Rad

Die Runde war mittlerweile um einige Mitglieder der Gilde gewachsen. Man stellte Fragen und lauschte den vielen Geschichten aus alten Tagen. Menelaos bemerkte aber, dass sich bei den Themen rund um das Gespinst der Welt immer wieder Verwunderung auf den Gesichtern der Anwesenden abzeichnete. Das war nichts Ungewöhnliches, denn das Angesicht Nirns und die Ordnung um diese Welt herum war alles andere als allgemeines Wissen. Es wurde zumeist nur in den großen Schulen und Akademien gelehrt, und selbst dort widersprachen sich die Lehren und Ansichten mitunter beträchtlich. Der Altmer blickte noch einmal in die Runde, bevor er sich einen weiteren Schluck seiner “Alten Epiphanie” gönnte.

“Das Gefüge der Türme schützt Nirn und den Mundus.” Er zog die rechte Augenbraue hoch: “Sagt euch das überhaupt etwas, oder ist das zu abstrakt?”

Einer seiner Gildengefährten, einer, der ihm schon länger als sehr wissbegierig erschienen war, antwortete ohne zu zögern: “Oblivion, Mundus, Nirn, Aurbis, Aetherius. Ich verstehe immer noch nicht, was nun genau was ist und vor allem, wie das Gefüge der Türme da reinpasst. Die Türme schützen uns hier irgendwie, aber was genau sie machen? Tut mir leid, das will mir nicht einleuchten.” Seine Stimme wurde energischer: “Wenn wir Nirn besser schützen wollen, müssen wir das doch aber verstehen.”

Menelaos schien einen Moment lang zu grübeln. Sogar der Vorbote einer Denkfalte machte sich in seinem sonst zeitlos erscheinenden Gesicht breit. Schließlich wog er den Kopf hin und her, bevor er leise sagte: “Wir sprechen hier auch über Dinge, die nicht von Sterblichen geschaffen wurden, in einer Zeit vor aller Dinge Anfang. Vielleicht haben unsere gemeinsamen Vorfahren, die Ehlnofey, diese Dinge verstanden; aber vielleicht auch nur zum Teil, denn auch sie waren ja einst ihrer Unsterblichkeit beraubt worden.”

Der Zauberer tippte abwesend mit dem rechten Zeigefinder auf einen Wälzer, der plötzlich neben ihm zu liegen schien. “Wir können Dinge nur aufschreiben, die wir meinen zu verstehen. Deshalb ist es auch so schwierig, über das Verschwinden der Dwemer zu schreiben. Wir können es schlicht nicht begreifen; und so ist es mit vielen Dingen, die die Welt bewegen; im übertragenen und im wahren Sinne.”

Er blickte kurz hoch zur hohen Decke der Gildenhalle, die mit allerlei Mosaiken von Helden, mystischen Wesen, Wolken und Bergen verziert war. Rechts Magnus, die Sonne, links Masser und Secunda, Nirns zwei Monde. Alle Mosaike waren von Rändern eingefasst, in die Runen geschrieben waren. Ohne seinen Blick von der Decke zu nehmen, hob er an zu sprechen:

“Aurbis ... ist die Schöpfung. Das Ein-und-alles: Gestalt gewordener Geist durch das Werk der Urkräfte Anu und Padomay. Diese Namen hören wir heute nicht mehr sehr oft, und auch in Büchern findet man sie selten, außer in den ganz esoterischen Werken. Beide sind nicht einmal mehr Götter, sondern existieren heute nur noch als kaum begriffene Prinzipien von Sein und Nichtsein, Existenz und Vergessen, Ordnung und Veränderung. Durch die Verschmelzung beider gegenseitiger Prinzipien entstand eine Art Gleichung in einem Ozean aus… was auch immer.” Er machte eine fast entschuldigende Geste, als wolle er sagen ‘Tut mir leid, mehr weiß ich dazu auch nicht.’

“Aurbis umfasst an sich alles, was uns aus der spirituellen und körperlichen Welt bekannt ist. Sogar die Ebenen der unsterblichen Wesenheiten der Aedra und Daedra gehören zu Aurbis. Jenseits des Aurbis kommt nur der ‘void’. Das Wort ist Ehlnofex und bedeutet soviel wie “Leere”, “Nichts” oder “Abgrund”. Er seufzte leise: “Da dies aber für den nicht vorbereiteten Geist kaum einsichtig ist, finden wir Aurbis beinahe nur noch in den Hochschriften der Gelehrten, und die Behandlung ist fast nur noch metaphysisch und höchst akademisch. Meistens beschränkt man sich auf das Wort Mundus, um es überhaupt in gängigen Debatten behandeln zu können.”

Bei dem Wort blickten sich einige der Versammelten an, ganz so, als ob sie einen Teil der Geschichte schon einmal gehört hätten. “Mundus,” sagte einer von ihnen. “so wie in Mundus-Stein?”

“Ja, die Mundus-Steine haben sehr viel damit zu tun und stellen einen Zusammenhang zwischen unserer realen Welt und den Einflusssphären des Kosmos dar. Den Begriff des Mundus hören wir sehr viel öfter als Aurbis. Wenn Aurbis ein Ozean aus Geist ist, dann schwimmt Mundus als durchaus reale Schöpfung auf ihm. Wie wir wissen, wurde Mundus einst von Lorkhan, oder auch Shor, erschaffen. Gestalt gewordener Geist durch das Werk vieler unsterblicher Wesen, die dadurch ihre Größe einbüßten. Mundus beinhaltet alle uns bekannten Welten, einschließlich Nirn, unserer eigenen.”

Er machte eine kurze Pause und fuhr wieder fast nachdenklich über die feinen Inschriften auf dem Deckel des Wälzers neben sich. Manch einer konnte sehen, dass die Inschriften dabei kaum merklich zu glänzen schienen.

“Die meisten Gelehrten neigen nun dazu, Nirn als das Zentrum des Mundus anzusehen. Immerhin ist Nirn unser Heim. Ich denke, das spiegelt den Egoismus wieder, den man benötigt, um sich ins Zentrum des Geschehens zu rücken. Es liegt nicht in unserer Natur, eine Existenz als Randerscheinung zu leben.” Wieder sein feines ironisches Lächeln. “Nehmen wir aber an, Nirn läge tatsächlich im Zentrum des Mundus, dann würden acht weitere Welten um uns kreisen, die symbolischen Körper der Aedra, unserer göttlichen Schutzherren. Tatsächlich gibt es Sternenkarten und auch Apparate, die ein in sich geschlossenes System von Welten beschreiben, die einander umkreisen. Vermutlich habt ihr solche Dinge bereits in einigen dwemerischen oder ayleidischen Ruinen gesehen, denn diese beiden Völker waren dem Himmel sehr zugewandt.”





Einige der Gildengefährten schienen sich zu erinnern und raunten sich Worte zu wie ‘Eldenwurz’, ‘Volenfell’, ‘Avanchnzel’. Menelaos lauschte ihnen, bevor er fortfuhr:

“Ja, Eldenwurz ist sicher einer der bekanntesten Orte mit so einem Sternenapparat. Erinnern wir uns: Königin Ayrenn’s Bruder Naemon kam darin ums Leben, kurz nachdem er sich zum rechtmäßigen Erben des Throns von Alinor erklärt hatte.” Der Altmer verzog leicht die Mundwinkel. “Es scheint immer mehr rechtmäßige Erben als freie Throne zu geben. Meistens bekommmt es der Welt dann nicht gut. Wie dem auch sei: Es ist nun sehr wichtig, zu verstehen, dass im simpelsten Modell Nirn und die acht umkreisenden Welten als Wagenrad gesehen werden, und das ist der Mundus in seiner allereinfachsten Form: Nirn ist die Nabe des Rads und die acht Welten sind seine Speichen.”

“Ein Wagenrad?”

“Ja, symbolisch gesprochen. Derlei komplexe metaphysische Gebilde kann man nur mit Symbolen der mondänen Welt erklären.” Er fuhr fort: “Um es vorwegzunehmen: Der Raum zwischen den Speichen gehört den Welten der Daedra und wird meistens mit Oblivion gleichgesetzt. Den Radkranz bildet Aetherius, die Sphäre des Unsterblichen Geistes und aller Magie; und seit der Schöpfung dreht sich dieses Rad langsam im Strom des aurbischen Ozeans und lässt die Zeit geordnet voranschreiten.”

“Wenn ich ein Bild bemühen müsste, würde ich sagen, wo die acht Speichen in den Radkranz laufen, entstehen acht Verbundstellen, in denen die Schöpfung und die Welten des Mundus an Aetherius grenzen, das immerwährende Reich und die Heimstatt der Aedra. Und diese Verbundstellen bilden das Gefüge der Türme.”

Er ließ das einen Moment im Raum stehen. “Die Türme Nirns bilden sozusagen die Verbindung, oder von mir aus auch die Kraftlinie, zwischen der materiellen Welt, in der wir leben, und der Sphäre, in der Göttlichkeit und alle magische und mystische Energie existieren. Sie sind ein Echo der Kreation, wenn man so will und sie sind gleichzeitig auch acht Anker, die Mundus vor den chaotischen Strömungen von Aetherius schützen; angeblich. Nur so kann sich das Rad Mundus auf jenem Ozean halten, um den Vergleich einmal fortzuführen."

Der Altmer lehnte sich ein wenig zurück in seinem Stuhl und sann wohl über seine nächsten Worte nach. “Es ist schon recht komplex und natürlich sehr mystisch verkleidet. Die acht Türme existieren als spiritueller und zeitlicher Anker in der Struktur des Rades. Sie bringen Linearität in den sonst willkürlichen Fluss der Zeit und ermöglichen so die universellen Prinzipien, unter ihnen Ursache und Wirkung. Diese Türme strahlen die reale Macht des Mundus aus und halten in einem gewissen Radius auf eine Art, die man Magie nennen könnte, die Schöpferenergie auf Erden in ihren Bahnen.”

Der Altmer verzog leicht seinen rechten Mundwinken: “Es sei denn, sie werden gestört oder zerstört.”

“Gibt es auch über die anderen Türme Geschichten zu berichten?”

“Ja, aber mit variierendem Detailreichtum. Am meisten gäbe es noch über den Weißgoldenen Turm der Imperialen Kapitale zu erzählen. Ansonsten kennen wir noch Grünsaft, den Schreitenden Baum, Orichalc aus Yokuda, das Kristallgesetz aus Sommersend und die Schneekehle in Skierim, auch Himmelsrand genannt. Hinzu kommen noch mindestens drei Theorien über Versuche, weitere dieser Türme zu errichten, die aber wohl gescheitert sind.”

Einer der Gefährten der Gilde, der gerade erst vom letzten Feldzug im Herzland Cyrodiils zurückgekehrt war, horchte nun auf: “Der Weißgoldene gehört zu diesen Gefügetürmen? Ich sehe oft noch einen Anker über ihm schweben und man munkelt, der Turm sei schon nicht mehr ganz in dieser Welt.” Er spuckte aus. “Drecks Daedra, möge Shor sie alle ins Nirgendwo verbannen.”

Menelaos lächelte. “Ja, Weißgold ist ein wichtiger Turm. Vielleicht ist er sogar der wichtigste dieser Tage, und auch der interessanteste. Er wurde in der frühen Ära der Dämmerung von den Ayleid errichtet, um sich ihrer einstigen Rolle bei der Besiedlung des Herzlands immer bewusst zu sein. Habt ihr euch einmal einen Grundriss der Kaiserstadt angesehen?”

“Es ist eine Ringstadt, die in unterschiedliche Bereiche eingeteilt ist. Stadtviertel halt. Warum?”

“Ja, es sind sechs Bezirke, die durch sechs Mauern getrennt werden. Und um den Turm liegen wiederum zwei konzentrische Mauerringe. Die Stadt ist wie ein Wagenrad gebaut.”

Er hörte, wie seine Gefährten schwer einatmeten.

“Aber es sind nur sechs Speichen, nicht acht.”

“Das ist wahr. Dazu gibt es zwei Theorien. Eine besagt, dass die Ayleid der Herzlande nur von sechs Türmen wussten, weil einer auf einem ihnen unbekannten Kontinent stand und sich einer ihrer Form der Studien und Magie entzog. Eine andere Theorie besagt hingegen, dass die Ayleid nicht die Achtgötter verehrten, sondern sechs Daedra ihr Pantheon nannten. Das wäre dann die etwas beunruhigendere Theorie.”

“Verdammt, nächste Woche beginnt die neue Kampagne gegen die Kaiserstadt, und es heißt schon jetzt, wir gehen wieder durch die Kanäle in die Bezirke, um sie für den Aldmeri-Bund zu gewinnen. Und jetzt soll das alles eine gigantische daedrische Falle sein? Ich dachte bislang, das wäre sozusagen der Rest der Ebenenverschmelzung! Bitte erzähle uns vom Weißgoldenen Turm, ich will da nicht unvorbereitet rein.”

Menelaos gönnte sich noch einen Schluck seines Lieblingsweins.

“Natürlich…”