Weißgold

“Der Weißgoldene Turm. Wo beginnt man da?”

Der Altmer rieb sich nachdenklich die Hände und schien einen Moment lang abwesend. Einer der Zuhörer in der großen Gildenhalle nutzte die kurze Pause:

“Na, er ist doch der Imperiale Palast.”

“Sicher ist er das. Die Kaiser des Ersten und Zweiten Imperiums haben schon immer von ihm aus regiert, und der Rubinthron, auch wenn er momentan verwaist ist, war seit Jahrtausenden das Symbol der einigenden Kraft der legitimen oder legitimierten Herrscher.”

Menelaos warf einen Blick auf das Gemälde Ada-Mantias, das er von wenigen Wochen in der Gildenhalle aufgehangen hatte. “Aber er ist noch so vieles mehr, denn erbaut wurde er von den Aldmer, den Vorfahren der Ayleid in den frühesten Tagen der Merethischen Ära, also jener Ära, in der sich die späteren Elfenvölker über Tamriel ausdehnten.”

Einer der Gildengefährten runzelte die Stirn: “Vorfahren der Ayleid? Ich dachte, die Ayleid stammen von diesen Erdknochen ab, den Ehlnofey.” Er stockte kurz. “Also die, von denen du gesagt hast, sie wären mal unsterblich gewesen und in die Schöpfung mit eingeflossen.”

Menelaos dachte einen Moment nach, bevor er antwortete: “Nicht ganz. In der Mystischen Ära nach der Erniedrigung der Ehlnofey drifteten einzelne Gruppen dieser einst unsterblichen Geistwesen auseinander. Viele gingen in der Natur auf und andere verschwanden einfach. Das früheste Volk, das man heutzutage kollektiv als Elfen bezeichnen könnte, waren die Aldmer, so wie in ‘Aldmeri’; nicht zu verwechseln mit meinem Volk, den Altmer, mit einem ‘t’. Ich weiß, es scheint kompliziert, aber belassen wir es dabei.” Er schmunzelte leise, bevor er fortfuhr: “Die Aldmer waren also direkte Abkömmlinge der einst unsterblichen Ehlnofey, und die Ayleid wiederum waren eines der später aus den Aldmer hervorgegangenen Elfenvölker.”

Einige der Gildengefährten rollten bereits die Augen.

“Wie dem auch sei, Weißgold wurde in den frühesten Tagen der Merethischen Ära erbaut, lange bevor es das Erste Imperium gab. Vermutlich bauten sie zuerst nur den Turm und nicht die übrige Struktur, denn fest steht, dass der Weißgoldene Turm dem Ur-Turm, Ada-Mantia, nachempfunden wurde und damit die Zusammenkunft des Göttlichen auf der Erde nochmals beschworen werden sollte. Vermutlich hatte also die Errichtung jenes Turms nicht nur ästhetische Gründe. Vielmehr muss es einst ein Ort der Verehrung gewesen sein, denn uralte Überlieferungen in Ayleidoon, der Sprache der Ayleid, nennen den Turm den ‘Tempel der zehn Urahnen’. Wir wissen, dass die Ayleid unter anderem einen Ahnenkult praktizierten, aber ob der wiederum schon viel früher begründet wurde, wissen wir nicht. In jedem Fall aber hatte der Turm schon immer eine immense mystische Bedeutung.”

Er wog den Kopf leicht hin und her: “Es ist jedoch auch möglich, dass der Turm eine wesentlich aktivere metaphysische Rolle spielen sollte und dass das sogar sein hauptsächlicher Zweck war. Es gibt Schriften in der Imperialen Bibliothek und auch anderswo zu finden, in denen versucht wird zu belegen, dass Weißgold bereits in frühesten Tagen dazu dienen sollte, die Kreation des Mundus zu beeinflussen. Erinnern wir uns daran, dass das Gefüge der Türme den Mundus im hier und jetzt halten sollte. Dieses Grundprinzip wohnt allen jenen mystischen Türmen inne.”

Menelaos zögete einen Moment lang und legte den Kopf leicht schief. “Es gibt allerdings nicht wenige Spekulationen, und manche Gelehrte stützen diese, dass Weißgold die Kreation von Mundus entweder fortführen oder in Teilen umkehren sollte. Der Turm sollte also nicht bloß die Schöpfung erhalten und stabilisieren, sondern ändern. Dazu muss er allerdings dann doch die Form des Wagenrads gehabt haben. Daraus wiederum resultierte die Architektur der Kaiserstadt, die wir heute kennen: Ein zentraler Turm als Radnabe, sechs Speichen und ein Radkranz mit sechs Türmen. Ein Wagenrad, das metaphysische Symbol der Schöpfung.”





“Das verstehe ich nicht. Warum musste es ein Wagenrad sein, wenn der Turm doch das Abbild des Ur-Turms war. War das nicht mystisch genug?”

Der Zauberer deutete mit seinem rechten Zeigefinger wiederum auf das dicke, alte Buch, das neben ihm lag. “Nein. Machen wir uns erneut bewusst: Das Wagenrad ist die symbolhafte Vergegenwärtigung der Kreation: Der Fokus allen Seins, der auf einem Ozean aus Geist, Gedanken und nicht linearer Zeit treibt, und es ist zugleich ein Anker. Um diesen Zustand zu halten, bedarf es jener Schöpfungsenergie, mit der der Mundus beseelt ist, sonst würde er wieder in jenem Ozean versinken. Alte Schriften nennen diese Schöpfungsenergie ‘Creatia’.”

“Wenn die Annahmen dieser Gelehrten begründet sind, und vieles spricht dafür, wurde Weißgold also erbaut, um nicht bloß nostalgisch der Schöpfung des Mundus und einer längst vergessenen Zeit zu gedenken, sondern um selbst Dinge zu erschaffen oder bereits erschaffene Dinge zu verändern: Um selbst zum Schöpfer zu werden!”

Plötzlich schien sich die Statur des Altmer zu verändern. Er richtete sich auf in seinem alten Holzsessel und wirkte plötzlich größer und auch irgendwie eindringlicher als man es sonst von seinem Gemüt her kannte. Sein Schatten hinter ihm schien größer und seine sonst gütigen grünen Augen blickten nun durchdringend die Gemeinschaft an.

“Vergegenwärtigt euch das! Weißgold ist kein bloßes Relikt, dass die Schöpfung symbolisieren soll. Er war ein Fokus für jene, die sich selbst immer noch als Schöpfer wähnten, obwohl ihnen der Göttliche Funke längst fehlte: Die Aldmer, und später vermutlich die Ayleid, haben Weißgold erbaut, um selbst die Creatia zu nutzen; vermutlich, um einen Teil der Kreation umzukehren und ihren unsterblichen Geist wiederzuerlangen, den sie durch Lorkhans Betrug eingebüßt hatten.  Wir wissen es nicht und werden es vermutlich nie erfahren. Wir wissen nur, jedes Prinzip hat sein Gegenprinzip. Selbst Mannimarco, der Wurmkönig, schreibt in einerm seiner Bücher ‘Wie oben so unten, wie außen, so innen.’ Eine Reminiszenz an die Prinzipien, nach denen die Welt funktionert.”

Einer der Gefährten sprang abrupt auf. Ein Kelch fiel um und Wein rann auf den Boden der Gildenhalle. Aus seiner Stimme klang anklagende Empörung: “Mannimarco?! Du hast Mannimarcos Bücher gelesen?!”

Menelaos sah ihn nur leicht schief von der Seite an. Ein leises Aufkeimen von Arroganz war in seinen sonst so bedachten Worten zu hören: “Natürlich, er ist ein Gelehrter, der über tausende Jahre altes Wissen verfügt. Und wir haben ihn mit seinem Wissen geschlagen; oder vielleicht auch trotz seines Wissens. Kenne deinen Feind, besonders, wenn er sich mit Mächten einlässt, die älter sind als diese Welt.” Er seufzte: “Es ist wie es ist, und nun setz dich bitte wieder.”

Der Gefährte schaute sich kurz um, entschied sich aber fürs Bleiben. Er blieb stehen und lehnte sich an eine der Säulen in der Gildenhalle.

Auch Menelaos schien wieder in seine ruhigere Art zu finden. Der Schatten hinter ihm war verflogen. Er blickte in die besorgten und bestürzten Gesichter seiner Gefährten. Einige waren erst unlängst aus der Kaiserstadt zurückgekehrt. Vermutlich wussten sie nicht, dass sie in derart alten und übernatürlichen Dingen nur eine winzige Rolle spielten, wenn überhaupt. Die drei Allianzen waren unwichtig. Sie kämpften nur in einem weltlichen Krieg, den niemand gewinnen konnte. Der Turm war wichtig, nur er zählte.

Der Altmer lehnte sich zurück: “Wo war ich? Ah, bei Creatia und beim Schöpfungsakt.” Er schien kurz nachzudenken. “Lorkhan hatte einst die Schöpfung begonnen und auch abgeschlossen. Durch die Verweltlichung Nirns sollte eigentlich die Creatia aufgebraucht sein. Aber wir glauben zu wissen, dass es außerhalb Nirns noch Orte gibt, die unvollständig sind und in denen noch Creatia fließt, weil sie noch nicht verbraucht wurde.”

Er verzog die Mundwinkel: “Ich spreche von den Welten Oblivions, den Reichen der Daedra. Dort fließen noch die Kräfte der Veränderung, wenn auch in Bahnen, die wir nicht verstehen. Aber die Ayleid dachten, sie hätten sie verstanden. Nach allem, was wir wissen, wandten sie sich den sechs mächtigsten Prinzen der Daedra zu. Daher auch nur sechs Speichen im Wagenrad der Kaiserstadt. Sie gingen das schreckliche Bündnis ein, Creatia aus Oblivion abzuleiten, um sich und ihre Welt zu verändern und bezahlten einen schrecklichen Preis dafür.”

Er ließ das einige Momente sacken, während die Gefährten aus der Gilde sich schweigend ansahen. Das schiere Ausmaß dieser alten Geschichte...

“Und es scheint auch funktioniert zu haben, zumindest im Herzland, das die Ayleid der alten Tage ihre Heimat nannten. Reiseberichte aus der frühen Merethischen Ära, die uns erhalten blieben, sprechen von feuchten Sümpfen und undurchdringlichen Dschungeln im Herzland Cyrodiils, rund um den Rumare-See und im Tal des Niben. Und später und auch heute sehen wir dort waldlose Ebenen, ein trockenes, üppiges Hügelland und fruchtbare Täler. Dieser Wandel wäre nie allein durch Urbarmachung oder Landwirtschaft möglich gewesen. Und das Klima scheint auch weniger harsch als man es von Sümpfen und Dschungeln erwarten würde.”

Er nahm kurz den Kelch zur Hand und gönnte sich einen Schluck ‘Alte Epiphanie’. “Fast scheint es so, als wäre dort seit Urzeiten eine andere, eine neue Schöpfung im Gange.”

Er blickte in die Runde: “Die Gelehrten streiten nun seit Jahrhunderten, wie dies möglich sein konnte, aber alle sind sich einig, dass man - um es überhaupt möglich zu machen - eben jene Struktur des Rades benötigt; und es bedarf einer Möglichkeit, die Creatia zu sammeln, in jenes Rad zu lenken und sie kontrolliert freizusetzen. Das scheint zunächst ein unglaubliches Wagnis, aber die Ayleid hatten Jahrhunderte lang Zeit und verfügten über daedrisches Wissen. Es gibt nun einige Manuskripte aus der Mittleren Merethischen Ära, die die Alessianische Rebellion überlebt haben, in denen zumindest einige Fragmente solcher Rituale aufgeführt sind.”

“Sie sind allesamt beängstigend”, fügte er hinzu.

Er nickte hinüber zu einem der großen Bücherregale. “Als die Hüter des Aldmeri-Bundes zuletzt wieder gegen die Kaiserstadt ausrückten, entschloss ich mich, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, wie man so schön sagt. Während unserer letzten Versuche, die Situation in der Imperialen Kapitale zu klären, konnte ich im Weißgoldenen Turm Einsicht in einige dieser Werke nehmen, als wir einen Umweg durch die Bibliothek der Mottenpriester nahmen.”

“Du konntest ‘Einsicht nehmen’, während Armeen von Daedra um uns herum sprangen?”

Der Altmer lächelte sein ironisch süffisantes Lächeln: “Rajhins Mantel machte es möglich, sich ein wenig umzusehen. Ich habe drei Bücher vorsorglich mitgenommen. Ich hielt es in der Situation für unverantwortlich, sie dort zu lassen, bei all den Daedroth und Xivilai, die den Turm heimgesucht hatten. Und auch Kronregentin Clivia Tharn, der man die Bücher sicher hätte geben können, entpuppte sich ja als Molag Kena, Molag Bals sehr spezielle Abgesandte. In ihren Händen hätten diese Bücher sicher viel Schaden anrichten können.”

“Schaden? Inwiefern?”

“Der größte Anker aus Kalthafen schwebt immer noch über dem Weißgoldenen Turm, obwohl die Verschmelzung der Ebenen längst abgewendet sein müsste. Wir haben zwar die Große Fessel gemeinsam mit Vanus Galerion zerstört, als wir nach Kalthafen vorrückten. Es hätte also vorbei sein müssen. Aber das war es offensichtlich nicht. Es muss also einen anderen Grund für die Anwesenheit des großen Ankers über Weißgold geben, und den vermuten jene Bücher - und auch ich - in den Tel'Var Steinen.”

“Was haben die Tel'Var Steine denn damit zu tun?”

Der Zauberer wog den Kopf leicht hin und her. “Hattet ihr Gelegenheit, im Quartier der Allianz in den Kanälen mit Phrastus von Elinhir zu sprechen?”

Schweigen.

“Man mag ihn ja für einen Exzentriker halten, aber er besitzt großes - wenn auch manchmal obskures - Wissen über Alte Geschichte.” Menelaos machte eine ausholende Geste. “Er sagte, die Ayleid hätten für ihren Weißgoldenen Turm den Nullstein nicht reproduzieren können, also jenen Fokus, der dem Ada-Mantia als Quelle der Kraft zugrunde liegt. Damals existierte das Amulett der Könige noch nicht, nur Chim-el Adabal, der Rote Diamant; und der war ein Seelenstein. Ein sehr mächtiger zwar, aber dennoch ungeeignet, um darin die Energien der Schöpfung zu speichern.”

“Phrastus nannte aber eine andere Quelle, die dafür geeignet zu sein scheint: Die Tel'Var Steine. Übersetzt heißen sie Silbersterne, und die wenigen Gelehrten, die sich überhaupt mit ihnen befasst haben, Herminius Sophus zum Beispiel, berichten von einer sehr hohen Magiedichte in eben jenen Kristallen, die der Legende nach einst aus Aetherius auf Nirn hernieder regneten, meistens in der Form von Sternschnuppen und Feuerschweifen.”

“Im Buch ‘Über die Tel'Var Steine’ wird darüber spekuliert, dass neben den Welkynd-Steinen auch eben jene Tel'Var Steine in der Lage wären, nicht nur Magie zu speichern und wieder zu entlassen, sondern auch ‘Creatia”, die Essenzen der Schöpfungsenergie. Wir wissen weiterhin, dass die Ayleid, wenn nicht sogar schon die Aldmer, unzählige dieser Tel'Var Steine in die gesamte Struktur des Weißgoldenen Turms eingefügt haben. Und sie haben sie genutzt.”

Er beschrieb eine ausholende Geste: “Und die Daedra überall in der Imperialen Kapitale scheinen heute diese Steine zu suchen, aus allen Gewölben herauszubrechen und über den Anker nach Kalthafen zu leiten. Man könnte auch sagen, sie leiten Substanz gewordene Schöpfungsenergie um, direkt in Molag Bals Reich.” Er überlegte kurz. “Und es war ein glücklicher Zufall, dass wir Molag Kena entlarven und bannen konnten, denn sonst wäre Molag Bal auch in den Besitz einer Schriftrolle der Alten gelangt.”

Er nahm noch einen Schluck seiner ‘Epiphanie’ und seufzte dann hörbar.

“Wir mögen den Prinz der Intrigen und der Zerstörung in seine Schranken gewiesen und die Ebenenverschmelzung aufgehalten haben, aber die Zeit arbeitet weiter für ihn; es sei denn, sein Plan würde auch in der Kaiserstadt vereitelt. Schon jetzt kann sich Molag Bal tief unterhalb der Kaiserstadt als astrales Abbild wieder manifestieren, und uns läuft die Zeit davon. Aber leider sind sich die drei Allianzen untereinander sehr uneinig, und vermutlich wissen sie nicht einmal davon. Sie führen weiter ihre Kleinkriege in den Stadtvierteln und freuen sich, wenn sie sie mal einen Tag lang halten können. Sie tauschen selbst Splitter der Tel'Var Steine bei dubiosen Geschäftemachern gegen Tränke, Rohstoffe, ein paar Ringe und das eine oder andere Beutegut. Dabei wissen sie nicht, dass sie der Schlüssel sind zu einer Kaiserstadt ohne Molag Bal und seine Diener.”

Der Altmer atmete schwer aus: “Das ist die Geschichte vom Weißgoldenen Turm, und wir schreiben sie jeden Tag ein Stück weiter. Der Ausgang der Geschichte ist unklar. Aber da das Amulett der Könige nach dem Seelenbruch brach liegt, sind diese Steine der bestmögliche Weg, Weißgold intakt zu halten und Molag Bals Zugriff darauf zu verwehren; auch, wenn es nur eine Verlangsamung ist.”

Nun meldete sich eine der Zauberinnen der Gilde zu Wort: “Menelaos, du hast neulich gesagt, diese Türme im Gefüge müssten intakt sein, damit Nirn geschützt ist.” Sie zog zweifelnd die Augenbrauen hoch: “Ich gehe davon aus, dass das beim Weißgoldenen Turm zumindest im Moment nicht der Fall ist?”

Er schüttelte kaum merklich den Kopf: “Nein, Weißgold ist derzeit aus dem Spiel.”

“Puh!”, war das Einzige, was einer der intensiv zuhörenden Gefährten aus der Gilde darauf entgegnete. Es war der Krieger, der gerade erst aus Cyrodiil und aus der Kaiserstadt zurückgekehrt war.