Anu-Midium

Der Altmer lehnte sich ein wenig zurück. Mittlerweile waren einige weitere Gefährten der Gilde hinzugekommen und lauschten den alten Geschichten. Tamriels Mythen und Himmelskunde füllte ganze Bibliotheken, und das Gefüge der Türme war sicherlich eines der abstraktesten, aber auch geschichtsträchtigsten Themen, denen man sich widmen konnte. Menelaos gönnte sich noch einen Schluck “Alte Epiphanie” und fuhr dann fort:

“Die Geschichte des Messing-Turms ist sicher die bewegendste, denn mit ihr hängt eines der dramatischsten Ereignisse der Ersten Ära zusammen: Die Schlacht am Roten Berg. Sie führte zum Ableben dreier Götter, zum Tod dreier gottgleicher Champions, zum Verschwinden eines ganzen Volkes und zur Geburt drei neuer Götter. Und selbstverständlich, wie das bei solchen Dingen nun mal so ist, ist jedes Teil dieser Aufzählung stark umstritten. Die Schlacht, vermutlich waren es sogar mehrere, tobte vor etwa 2800 Jahren, um das Jahr 700 der Ersten Ära, zwischen den Chimer - den Vorfahren der Dunmer - und den Dwemer. Nach so langer Zeit gibt es natürlich zahllose Interpretationen bezüglich der Schlachtendetails, und nicht wenige, die über den Ausgang spekulieren; und doch tauchen auch heute bisweilen noch Teile alter Rüstungen aus der Zeit auf, in die die Geschichte von Feuer und Asche eingebrannt ist. Sie werden ‘moladihn foyada’a’ genannt, Rüstungen des Feuerflusses. Die Kriegergilde nennt sie aber schlicht Rüstungen des Roten Bergs. Ich denke, beides ist passend.”

Er warf einen kurzen Blick auf eines der Bücherregale an der Seite der Gildenhalle, lehnte sich ein wenig nach vorn und schwenkte behutsam seinen Kelch.

“Jede Schlacht braucht neben unzähligen Toten auch ihre Helden. Prominenteste Figur der Chimer war Lord Nerevar “Mond-und-Stern” Indoril, Hochkönig seines Volkes und, so sagt man, Auserwählter Azuras, der daedrischen Herrin der Dämmerung und Abendröte. Bei den Dwemer finden wir König Dumac “Zwergenkönig”. Beide waren lange Zeit eng befreundet und hatten einst sogar zusammen Krieg gegen die Nord aus Atmora geführt, aber sie hatten sich zerstritten, nachdem die Dwemer unter dem Roten Berg das Herz von Lorkhan gefunden hatten und für ihre Zwecke nutzen wollten. Manche sagen, die Dwemer hätten im Sinn gehabt, sich der Chimer zu entledigen, um selbst über Resdayn, das heutige Morrowind, zu herrschen. Aber das ist strittig, wie so manches Detail dieses epischen Ereignisses. Es scheint aber festzustehen, dass es der oberste Tonmeister Kagrenac war, der auf die Idee kam, mit dem Herz Lorkhans einen mechanischen Gott zu beseelen: Anu-Midium, den sogenannten Messing-Turm.”






Der Zauberer machte eine weit ausholende Geste: “Einige wenige Abbildungen und Skizzen sind davon erhalten geblieben, geborgen aus den tiefsten Quartieren der Dwemerfestungen am Roten Berg. Ein Koloss, der eine hohe Vulkankammer ausfüllt, so unermesslich groß, dass er eine ganze Burg auf seinen Armen tragen konnte; und er war mit den größten Waffen der Dwemer bestückt. Selbst für die in Technologie so verliebten Dwemer muss das wohl ein kühner Plan gewesen sein. Zu kühn wohl für einige, denn angeblich kam der Plan, Anu-Midium durch Lorkhans Herz zu beseelen, nur durch Verrat ans Licht; und so erfuhr Lord Nerevar Indoril davon, und er sammelte seine eigenen Truppen. Auch viele andere Truppen schlossen sich ihm angeblich an, nachdem sie von der Macht der Dwemer gehört hatten. Tatsächlich hat Lord Nerevar vielleicht ein wenig übertrieben, um mehr Truppen um sich zu scharen, obwohl das von den meisten Dunmer heutzutage abgetan wird. Aber sogar eine Armee der Nord soll bei der Heerschau dabei gewesen sein, und das, nachdem knapp zweihundert Jahre zuvor ein erbitterter Kampf zwischen den Nordmännern und den Chimer gewütet hatte.”

Einer der Gildengefährten meldete sich zu Wort, einer der Krieger: “Weiß man nach so langer Zeit wirklich noch um den Ausgang der Schlacht und wer nun genau wo und an wessen Seite gekämpft hat? Und sind die Dwemer nicht alle irgendwann verschwunden?”

Menelaos nickte nachdenklich. “Es gibt ganze Wälzer, die sich mit den taktischen und strategischen Aspekten der Schlacht auseinandersetzen, auch nach so langer Zeit. Auf der einen Seite haben wir die magieversessenen Chimer mit Azura als Schutzmatrone. Auf der anderen Seite die Dwemer mit all ihrer erstaunlichen Technologie. Sicher ist heute nur, dass es unzählige Tote gab und dass am Ende die Chimer siegreich waren, wenn auch nur um Haaresbreite. Aus sehr unterschiedlichen Motiven blieb das Wissen erhalten. Die einen schrieben es auf und entwickelten in den Jahrhunderten eine feste Doktrin daraus, die anderen zogen als Nomaden umher und gaben es mündlich, aber sehr präzise, weiter.”

“Die Chimer haben die Dwemer also geschlagen?”

“Jein. Aus militärischer Sicht lässt sich dies vermutlich auch nicht mehr rekonstruieren. Es war vielmehr ein metaphysisches Phänomen, das den Krieg beendete; zumindest besagen es die einflussreichsten Berichte so. Demnach war Tonmeister Kagrenac kurz davor, das Herz Lorkhans zu benutzen. Er hatte dafür augenscheinlich eigens epische Werkzeuge hergestellt, die imstande waren, die Kräfte von Lorkhans Herz anzuzapfen und, so ein Zitat aus dem Buch der “Göttlichen Metaphysis”, die “Existenz immerdar zu transzendieren”. In seiner Not, oder schlicht, weil er es konnte, griff Kagrenac mit seinen Werkzeugen in die Strömungen des Herzens ein und leitete sie in den Anu-Midium. Und im nächsten Augenblick waren beinahe allen Berichten zufolge alle Dwemer verschwunden, buchstäblich dort wie in Luft aufgelöst, wo sie gerade noch standen.”

“Über das Schicksal der Dwemer wurden ganze Bibliotheken geschrieben, aber im Grunde genommen ist alles, was zu ihrem Verschwinden führte, reine Spekulation oder religiöse Doktrin. Fest steht heute nur, dass ihre Bauten und Technologien sie überdauert haben und seit mehr als zweieinhalbtausend Jahren kein Angehöriger der Dwemer mehr gesehen wurde. Zyniker schreiben seit langem, sie hätten tatsächlich und im wahrsten Sinne des Wortes ihre eigene Existenz transzendiert, so, wie Kagrenac es vorgehabt habe. Ob diese Hypothese hilfreich ist, kann jeder für sich selbst beurteilen. Vielleicht wollte Kagrenac sein Volk, Nachfahren der ehlnofey, auch einfach nur wieder so unsterblich machen wie vor Lorkhans Betrug. Niemand kann das heute noch sagen.”

”Und was geschah bei den siegreichen Chimer?”

“Nun, Nerevar muss all dies mit angesehen haben. Angeblich war er selbst zusammen mit seinen engsten Gefährten in der innersten Kammer auf Kagrenac und Dumac getroffen, als sie dabei waren, dem Messingtitan den Göttlichen Funken einzuhauchen. Nach dem Verschwinden der Dwemer brach eine Debatte darüber aus, wie nun mit dem Herzen und den Werkzeugen verfahren werden solle. Die moderne Tempeldoktrin weicht hier entschieden von den Traditionen anderer Dunkelelfen und auch anderer Völker ab. Einige sagen, Azura sei erschienen und habe eine nochmalige Benutzung der Werkzeuge verboten, andere sagen, Nerevar und seine Getreuen seien selbst zu diesem Entschluss gekommen.”

“Wie dem auch sei, Nerevar scheint das Herz zunächst in die Obhut seines Hauptmanns Lord Voryn Dagoth gegeben zu haben. Als er später jedoch zurückkehrte, wollte Lord Dagoth das Herz schon nicht mehr aufgeben, zumindest einem großen Teil der Schriften nach zu urteilen. Vielleicht war er von seiner Macht verblendet, wer weiß? Zu guter Letzt wurde auch er von Nerevar Indoril gestürzt und getötet. Es gibt Gelehrte, die meinen, Deutungen gefunden zu haben, dass Neid und Missgunst eine Rolle gespielt haben sollen. Natürlich gibt es aber auch jene, die sagen, Nerevar hätte die Chimer vor dem Einfluss des Herzens schützen wollen. Vermutlich ist es schwierig, nach knapp dreitausend Jahren die wahre Begebenheit herauszufinden. Man darf aber lesen, dass Nerevar im Kampf mit Lord Dagoth schwer verwundet wurde. Hier sind sich die meisten Schreiber einig, wobei einige wiederum anmerken, es sei merkwürdig gewesen, dass Nerevars Gefährten nicht in den Kampf eingegriffen hätten, denn Voryn Dagoth wurde als sehr mächtiger Krieger und Taktiker beschrieben. Angeblich war er lange Zeit Nerevars engster militärischer Verbündeter. In Vivecs Schriften im Tribunal-Tempel finden wir jedenfalls Erwähnungen, Nerevar sei damals kurz nach der Schlacht an seinen Wunden gestorben. Kritiker merken jedoch ein wenig spitz an, dass Vivec nicht erwähnt, von wem die Wunden stammen. Bedenkt man Vivecs Hang zu detaillierten Abhandlungen und elegischer Poesie, wirft natürlich gerade dieses fehlende Detail Fragen auf.”

“Nach dem Tode Nerevars nahmen die Ereignisse nochmals eine dramatische Wendung, und diese wiederum waren der Auslöser für eine der hitzigsten Debatten in der Gechichte der Chimer, respektive Dunmer: Denn nun traten Nerevars ehemalige engste Vertraute auf den Plan der Geschichte, und ihre Namen sind heute noch in aller Munde: Es waren Lady Almalexia, Nerevars einstige Gemahlin, Sotha Sil, sein einstiger Lehrmeister und Vivec, einer seiner engeren Ratgeber. Alle drei waren auch in der Kammer des Herzens zugegen und hatten einigen Schilderungen zufolge Azura einen Eid geleistet, niemals das Herz Lorkhans für ihre Zwecke zu nutzen. Aus irgendeinem Grund sahen sie sich nun aber nicht mehr an den Eid gebunden.”
Der Altmer legte den Kopf leicht schräg: “Natürlich gab und gibt es jene, die behaupten, es sei von vornherein nie ihre Absicht gewesen, den Eid zu befolgen. Der Göttliche Funke ruhte nur eine Armeslänge entfernt. Wer würde dem schon widerstehen können?”

Er blickte aufmerksam in die Runde seiner Gefährten: “Wie haben wir uns denn gefühlt, als wir dank des Göttlichen Funkens und Meridias Segen Molag Bal in seine Schranken weisen konnten? Chim-el-Adabal hat etwas in uns ausgelöst und uns in nie dagewesene Sphären befördert. Für einen Moment waren wir wieder die et’Ada, die Hohen Geister aus der Zeit vor Lorkhans Betrug. Wer will das nicht auf Dauer?”

Er sah sich nochmals um. Schweigen.

“Wie dem auch sei: Es gab jene, die berichteten, Lord Nerevar Indoril sei nach der Schlacht am Roten Berg von seinen Getreuen getötet worden; oder sie hätten seinen Tod aus Habsucht in Kauf genommen. Immerhin war ja niemand anderes in der Kammer des Herzens, der ein Zeuge gewesen wäre. Wie bei vielen Dingen, die ich bereits erwähnte, ist dies heute schwer bis gar nicht nachprüfbar. Das Tribunal wird sicher nicht kundtun, dass ihre religiöse Lehre auf Mord und Lüge beruht. Heute leben wir seit mehr als achtundzwanzig Jahrhunderten mit der Konsequenz dieses Streits: Jene Drei wendeten Kagrenacs Werkzeuge auf das Herz Lorkhans an und nahmen den Göttlichen Funken in sich auf; und wiederum hatte dies Folgen für ein ganzes Volk. Es veränderte das Aussehen der Dunmer. Sie wurden geringer im Wuchs und ihre Haut wurde aschfahl. Es gab nicht wenige, die darin einen Fluch Azuras sahen, ein Ausdruck, dass sich ihr Volk vom Pfad der Dämmerung entfernt und einer unsteten Nacht zugewandt habe. Fortan wurden sie Dunmer genannt, Elfen des Dunkels. Wie dem auch sei: Jene Drei, Almalexia, Sotha Sil und Vivec, nahmen die Göttlichkeit an, begründeten die Dreieinigkeit des Tribunals der Dunmer und richteten den Glauben ganz an sich und ihren Lehren aus. Den Glauben nannten sie “das Wort ALMSIVI”. Der bisherige Glaube der Chimer an das Dreierhaus der ‘guten’ Daedra wurde abgeschüttelt und als Häresie verboten. Ein militanter Orden aus Glaubenskriegern wurde aufgestellt und es folgten einige Ministerien und Bürokratien, die der Verquickung von Religion und Staat sowie dem Erhalt des Kultes dienlich waren. Der Rest, so sagt man, ist Geschichte. Und die wird heute von allen großen Häusern der Dunmer getragen, sogar vom Haus Indoril aus dem einst Nerevar stammte.”

Womit sich der Altmer wieder etwas zurücklehnte und an seiner “Alten Epiphanie” nippte.

“Es gibt aber nicht nur diejenigen, die der Lehre des Tribunals folgen: Die Aschländer sind die Überbleibsel der alten Zeit vor dem Tribunal. Sie leben als Nomaden im unwirtlichen Teil Vvardenfells und verehren immer noch das Dreierhaus der ‘guten’ Daedra, Boethiah, Mehrunes Dagon und allen voran Azura, ihre Schutzmatrone. Unter den Aschländern gibt es auch die Prophezeiung des Nerevarine. Demnach hat Azura die Ankunft einer Reinkarnation Nerevar Indorils vorausgesagt, die letztendlich das Tribunal zu Fall bringen und die alte Kultur der Dunmer, wie sie einst war, wiederherstellen wird. Aber das war ebenso vor knapp dreitausend Jahren, und mitunter ist dieses Orakel in Vergessenheit geraten.”

Schließlich wandte sich einer der Gildengefährten an Menelaos: “Anu-Midium.”

“Was ist damit?”

“Na, du hast ja eigentlich vom Gefüge der Türme erzählt. Ist bekannt, was aus diesem Koloss aus Messing nach der Schlacht wurde?”

Der Altmer legte den Kopf leicht schräg und schien seine Worte mit Vorsicht zu wählen: “Nach allem, was wir glauben zu wissen, düften zumindest Teile Anumidiums dem Tribunal in die Hände gefallen sein. Einigen wenigen Theorien folgend befindet es sich tief unterhalb der Stadt Gramfeste in Morrowind, aber diese Theorien sind meistens verschwörerisch, und natürlich haben wir keine offizielle Bestätigung des Tribunal-Tempels oder der Ordinatoren. Sicher ist nur, dass der Turm seinen Fokusstein verloren hat, das Herz von Lorkhan. Dann daran muss sich das Tribunal einmal im Jahr laben, um den Funken zu erneuern. Insofern bietet der Messingturm derzeit keinen Schutz gegen die Einflüsse Oblivions.”

Der Altmer seufzte: “Einer weniger.”

Er sann einige Sekunden über seine Worte nach, ehe er hinzufügte: “Interessant, nicht wahr? Während der Ebenenverschmelzung vor zwei Jahren versuchte ein Kult von Daedra-Anhängern, die sich die Schwurgebundenen nannten, sich tief unterhalb von Gramfeste festzusetzen und mittels außerweltlicher Siegel Zugang zu den durch mächtige Zauber geschützten untersten Kavernen zu verschaffen. Es wurde nie ganz geklärt, nach was dieser Kult genau suchte, und auch Lady Almalexia war nach der Reinigung ihres Tempels sehr vage und ausweichend zu den Aktivitäten dieses Kults.”

“Du denkst, sie hatten im Sinn, diesen Koloss zu rauben?”

“Ich denke, der Kult hatte fürstliche Unterstützer außerhalb dieser Welt, die sehr genau wissen, wo alte, mächtige Relikte zu finden sind. Ein wandelnder Koloss aus Metall aus glorreichen, alten Tagen, beseelt mit dem Geist eines toten Gottes hätte immensen Schaden anrichten und zur Zerstörung des Tribunal-Tempels führen können.”

Einer der Gefährten der Gilde legte nachdenklich sein Kinn in seine gefalteten Hände: “Molag Bal?”

Menelaos’ Antwort kam prompt: “Nicht unbedingt…”