Ada-Mantia

Stumm und aus gut zwei Metern Entfernung betrachtete er das Bild, das er gerade in der oberen Galerie der Gildenhalle aufgehangen hatte. Zwar war er in Gedanken versunken, hörte aber dennoch die leichten Geräusche sich nähernder Schritte, und allein an diesem Geräusch konnte er auch ausmachen, wer aus der Gilde sich da näherte. Sein Mund formte sich zu einem zufriedenen Lächeln.

„Was ist das?“ hörte er die gut gelaunte, leicht joviale Stimme hinter sich.

„Es ist ein Gemälde. Es ist sozusagen gerade fertig geworden.“ Der Altmer ging einen Schritt beiseite, um etwas mehr Platz zu machen. In dem Moment fiel das leicht diffuse Sonnenlicht auf das Bild, und durch die präzise Auswahl an Farben wirkte es plötzlich erstaunlich lebendig.

Auf dem Bild entfaltete sich eine Strandkulisse, und einige Überbleibsel einer Ruine der Ayleid, der Alten Elfen der Herzlande ragten im Vordergrund auf. Dahinter war das Meer zu sehen. Es war ungewöhnlich ausdrucksstark, und am Horizont konnte man eine Insel erkennen, auf der sich ein schlanker, sehr hoher Turm in den wolkenverhangenen Himmel reckte. Am linken Rand des Bildes hoben dunkle Wolken und mehrere weiße Fäden das Gewitter hervor, das offensichtlich gerade über der See tobte.





„Es sieht sehr stimmungsvoll aus, und irgendwie auch sehr entrückt. Was für ein Turm ist das? Die Bauweise kommt mir sehr bekannt vor.“

Die Antwort des Malers kam prompft: „Es ist Ada-Mantia, oder auch der Ur-Turm, auf der Insel Balfiera in der Bucht von Iliac.“

Er wurde dafür mit in die Höhe gezogenen Augenbrauen und einem ungläubigen Blick belohnt: „In der Iliac-Bucht? Du willst mir damit sagen, dass du einen Ausflug gemacht hast und an einem Strand des Dolchsturzbündnisses in aller Seelenruhe dieses Bild gemalt hast?“

Menelaos legte den Kopf leicht schief, bevor er nach einer kurzen Gedankenpause erwiderte: „Sturmhafen, um genau zu sein, mit Blick nach Südwesten. Ein guter Teil von Meridias Schleier liegt noch auf mir seit dem Ende der Ebenenverschmelzung, wie bei so manchem von uns in der Gilde. Und auch Rajhins Mantel hat im Munduskreis von Eldenwurz nicht all seine Kräfte eingebüßt. Ich habe ihn seinerzeit behalten, und für solche Reisen ist er immer noch von Nutzen.“
Leicht schelmisch grinsend fügte er hinzu: „Und den Wegschrein in der Nähe kenne ich von einem … Bekannten. Er ist über die Konstellation des Rituals zu erreichen.“

„Von einem Bekannten?“

„Ja, ein sehr alter Bekannter. Der Turm wird auch der ‚Direnni-Turm‘ genannt. Die Direnni sind meines Wissens die einzige Altmer-Dynastie, die in Hochfels noch Amt und Land hält; und sie herrschen seit der Ära der Mer über den Turm und Balfiera.“

„Und du kennst einen dieser Direnni?“ Die Frage kam nicht ganz ohne Erstaunen über die Lippen.

Der Altmer nickte stumm und nachdenklich.

„Erzähl‘ mir von diesem Turm. Er muss sehr alt sein, nehme ich an?“

Menelaos ließ seinen Blick erneut über das Gemälde schweifen. Sein Blick lag auf dem Turm. Langsam schien er seine Gedanken zu formen, bevor er in fast flüsterndem Ton begann: „Man sagt, es gäbe viele Türme auf Nirn, die so sind, wie er. Man sagt auch, sie bilden ein Gefüge, das als Ganzes Nirn vor den äußeren Sphären von Oblivion schützt … oder besser: schützen soll. Nicht alle diese Türme sind aber künstliche Bauwerke, einige sind eher Türme im symbolischen Sinne. Im Herzen jedes Turms soll es einen Stein oder vielleicht besser einen Fokus geben, der dieses Gefüge intakt hält. Priester der Göttlichen glauben, dass dieser Schutz schwächer werden wird, je mehr Foki auf die eine oder andere deaktiviert oder zerstört werden.

Der Ada-Mantia wird auch der Ur-Turm genannt, weil er der erste seiner Art sein soll, und er wurde in den frühen Tagen der Dämmerungs-Ära gebaut; vermutlich von den Aedra selbst, die sich von der Erschaffung von Mundus und vom Betrug Lorkhans erholten. In diesem Turm haben der Legende nach die Aedra ihre Zusammenkunft gehalten, um über Lorkhan Gericht zu halten. Auri-El und Trinimac hätten demnach nach dem Schiedsspruch über Lorkhan dessen Herz genommen und es in hohem Bogen in den Himmel geschossen, um ihn so für seine Betrügereien zu bestrafen. Das Herz ist dann später als flammender Stern weit im Nordosten Tamriels vom Himmel gefallen und hat einen großen Krater geschlagen. Das Meer ist nachgeflossen, und an der Stelle, an der das Herz in die Erde gedrungen ist, hat sich dann der Rote Berg erhoben, den die Dunmer Vvardenfell nennen.“

„Morrowind…?“ flüsterte sein Zuhörer gebannt.

„Ja, so ist es. Die Insel Vvardenfell wird mitunter mit der ganzen Provinz Morrowind gleichgesetzt. Der Rote Berg, so berichten mehrere Gelehrte, sei dann der zweite Turm, der Rote Turm, auf Tamriel geworden, und sein Fokus war Lorkhans Herz selbst. Aber selbst das ist lange her, und die Chimer und die Dwemer haben bereits wegen des Herzens Krieg geführt.“

„Wenn Lorkhans Herz der Fokus des Roten Bergs ist … oder war, welcher Fokus liegt denn dann im Ur-Turm?“

„Der Fokus des Ur-Turms wird unter den Gelehrten als Nullstein bezeichnet, nicht zu verwechseln mit dem Erz Leerenstein. Der Nullstein ist aber nicht physisch, er ist das spirituelle Echo der Zusammenkunft der Aedra auf dieser Erde am Anbeginn der Zeit. Deshalb, so denkt man, könne der Nullstein auch nur aufgehoben werden, wenn bereits alle anderen Türme versagt haben. Fällt er allerdings, würde die Barriere zwischen Nirn und Oblivion dauerhaft fallen.“

„Ich verstehe allmählich. Du fragst dich, wie Molag Bals Plan der Verschmelzung der Ebenen Realität werden konnte, wenn noch mindestens einer dieser Türme intakt ist?“

Menelaos rückte nun vom Gemälde ab und stütze sich auf das Marmorgeländer, als er von der hohen Galerie auf den Boden der Gildenhalle hinab sah: „Molag Bals Plan konnte auf Nirn nur dank Mannimarco umgesetzt werden, indem er dem Imperator Varen Aquilarius einflüsterte, das Amulett der Könige einzusetzen, um die Drachenfeuer zu entzünden und seine Abstammung zu deklarieren. Aber das Amulett der Könige ist noch viel mehr: Das Innere des Amuletts, der Rubin im Innern, den die alten Elfen der Herzlande ‚Chim-el-Adabal‘ nannten, wird als der Fokus eines weiteren Turms angesehen. Dieser Turm ist der Weißgoldene Turm der Herrscher Cyrodiils in der Imperialen Kapitale. Er wurde in der Zeit der Besiedlung der Herzlande durch die Ayleid errichtet, und sieht deshalb dem Ada-Mantia von Balfiera so ähnlich, oder dem Kristallturm der Altmer auf Sommersend. Die Ayleid wollten in diesen alten Zeiten den Aedra nacheifern, denn sie sahen sich als deren Nachkommen an.

Sowohl Mannimarco als auch später Abnur Tharn ging es aber um das Amulett der Könige für ihre eigenen Machtgelüste. Jeder wollte es seinen Ambitionen unterwerfen. Am Ende wurde aus ihm aber aus schierer Notwendigkeit der Göttliche Funke, der unseren Sieg über Molag Bal möglich machte. Meridia sagte aber, die Kraft des Steins sei nun für Generationen verbraucht. Damit ist ein weiterer Fokus aus dem Spiel um Nirn genommen worden. Molag Bal mag zwar fürs Erste als Gefahr gebannt sein, ich fürchte aber, wir sehen gerade erst den Anfang einer Reihe von besorgniserregenden Ereignissen. Deshalb habe ich den Ada-Mantia in einem Gemälde festgehalten: Weil er noch steht und intakt ist. Von mehreren anderen Türmen kann man das nicht mehr behaupten…“

Nachdenklich wandte sich der Besucher noch einmal dem Bild zu, bevor er sich neben den Altmer stellte und mit ihm gemeinsam schweigend von der Galerie hinab blickte.